Author/s:
Armin Medosch
Das Wesen des Kapitalismus ist die kreative Zerstörung, sagte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter schon in den dreißiger Jahren. Seine Theorie vom kreativen Unternehmertum feierte in den neunziger Jahren kreative Urständ: die New Economy, man erinnere sich. Junge Burschen und Mädchen mit feschen Frisuren, modischen Turnschuhen und krausen Ideen wurden plötzlich zum Ideal des neuen Unternehmertyps.
Stichwort: Sie hätten ja auch Künstler werden können, aber sie wollten was verdienen. Alte Wahrheiten des Wirtschaftslebens galten auf den Kopf gestellt, Unternehmen begannen ihre besten Produkte zu verschenken, um fiktive Marktanteile an “Eyeballs” in der Ökonomie der Aufmerksamkeit zu gewinnen. Auf der Achse zwischen Silicon Valley und Market Street, San Francisco, im Herzen der ehemaligen Gegenkultur der 1960er Jahre entwickelte sich der “coole Arbeitsplatz”. Ehemalige Fertigungs- und Lagerhallen wurden in Großraumbüros umgewandelt, deren architektonische Anlage bereits flache Hierarchien symbolisierte. Hier arbeiteten Menschen, die an der Garderobe ihr Skateboard deponierten, unter Kopfhörern Grunge oder Hip Hop hörten und Cappuccino Frappe Latte mit Limettengeschmack und Soyamilch, koffeinfrei, tranken, vor allem aber eines taten: sie identifizierten sich mit ihren Jobs. Die Arbeit war nicht mehr eine entfremdete Tätigkeit, die man sozusagen neben sich stehend ausführte. Jeder, ob Chef, Angestellte, Freelancer oder Praktikanten wollte ihr bestes geben, neue, glänzende Dinge machen, einfallsreich, geschickt, ja sogar genial sein. Und dafür arbeitete man dann, sozusagen frei und selbstbestimmt, bis zum Umfallen1. Die kalifornische Ideologie, also die unwahrscheinliche Synthese zwischen ultralibertären, wirtschaftskonservativen Ansichten und kulturellen Werten und Einstellungen geformt durch Hippie, Punk, Ökobewegung, breitete sich rasch nach Europa aus wo sich in Vierteln wie Shoreditch im Londoner East End oder in Amsterdam “Silicon Alley” Viertel bildeten2.
Die Schattenseiten dieser Entwicklung waren nicht nur der freiwillige Verzicht auf soziale Sicherheit, wie Andrew Ross in seinem Buch “No-Collar, The Human Workplace and its Hidden Cost” analysierte, sondern viel unterschwelliger: die freiesten Gedanken und Impulse, die tiefsten Regungen der Kreativen wurden plötzlich zum Gegenstand kapitalistischer Lohnarbeit3. Während Gegen- oder Subkulturen früher eine mögliche Abkehr vom Mainstream der Gesellschaft versprachen, ein Anderssein oder gar den Ausstieg, so war genau das jetzt voll im Programm des “hip” gewordenen, postmodernen Kapitalismus. Top 500 Unternehmen wollten “urban guerrilla” Chic. Die schnell wachsenden Web-Buden in den Silicon Tälern und Grachten konnten ihn liefern. Eine Zeit lang sah es soh aus als ob jedes Unternehmen, das ein E vor seinen Namen stellte exorbitante Börsennotierungen erzielte. Dann krachte das Kartenhaus, ca. um die Zeit der Jahrtausendwende. Zyniker werden einen Zusammenhang mit dem Millennium-Bug herstellen, der ja auch floppte.
Doch so schnell ließ sich die e-Economy nicht abdrehen. Nach ein paar Jahren des Durchtauchens erhob sie sich wie Phoenix aus der Asche, schöner, größer, jetzt mit Version 2.0, mehr Flash, mehr Shockwave, mehr Service-oriented-Architecture, und andere Kürzel, die gewitzte Open-Source-Gurus sich einfallen ließen. Wer vorher noch nicht “drin” war, musste jetzt rein, in die sozialen Netzwerke, ohne die sich weder Freundschaften noch Job-Suche handeln lassen.Alles was das Web sowieso schon gekonnt hatte, wurde in verdichteter Form angeboten, sozusagen mundgerecht gemacht von Flickr, Blogger, Delicius, Facebook, YouTube und Co: drück dich aus, sei so frei, mach hier deine Bilder rein, hier die Videos, pflege hier deine Kontakte, mach was aus dir, bei uns, deiner Web 2.0 Plattform4.
Wir machen die Kohle mit deinem Content aber das darf dich nicht stören denn für dich ist der Spaß ja gratis. Du kannst sogar berühmt werden bei uns, und dann mit deinem Ruhm anderswo Geld verdienen. Das nennt sich dann “neues Geschäftsmodell”, und solche sind in Zeiten der Krise bitter gefragt.
In Zeiten der Krise hat Kreativität Saison, vor allem als Schlagwort. Doch wie konnte es kommen, dass ausgerechnet dieser Begriff eine so große Bedeutung erlangt hat? In der Buchführung und allgemein im Finanzwesen wurde “Kreativität” lange Zeit mit Kriminalität gleichgesetzt. Gigantische Betrugsaffären wie Enron oder Worldcom galten noch als Einzelfälle, als faule Äpfel, die Schwächen des Systems auszunutzen verstanden hatten. Alles was die Federal Reserve Bank, damals noch unter dem immer hintergründig lächelndem Alan Greenspan, tun musste, war ein kleiner Bugfix, ein Security-Patch einzuspielen. Doch da war es schon zu spät. Denn das Finanzsystem war insgesamt “kreativ” geworden. Hochkomplexe Anlagepakete, geschnürt von den besten mathematischen Gehirnen gemeinsam mit den besten Computerexperten und schnellsten Rechnern der Zeit, versprachen Investoren goldene Zeiten, gewaltige Gewinnspannen, kaum Risiko, bis ans Ende der Zeiten. Dann, 2006, 2007, begann der amerikanische Immobilienmarkt zu krachen und das Risiko trugen, siehe da, wir alle, denn die Welt hatte sich via Kreditversicherungen in den Häuserbauer-Boom im Land der Träume eingekauft. Unsere privaten Pensionsvorsorgen, die uns in den neunziger Jahren eingeredet wurden, sind jetzt auch nicht mehr viel wert. Vielleicht war es das, was Joseph Schumpeter mit kreativer Zerstörung meinte. Selbst in Zeiten der großen Depression verteidigte er noch den Kapitalismus.
Der stammt ja ohnehin weniger von der protestantischen Arbeitsethik als vom Raubritter- Briganten- und Seeräubertum ab: mit dem Gold der spanischen Fregatten hat sich das englische Königreich die Energiezufuhr verschafft, um ein Imperium aufzubauen, in dem der Kapitalismus zuerst zur Blüte kam. Und es waren die kleinen wendigen Kähne der Engländer, welche die Kolosse der spanischen Armada im Ärmelkanal ins Nebelloch und dann in den Untergang jagten, heißt es. Diese Metapher wurde schon vor zehn Jahren gerne gebraucht, als File-Sharing-Systeme wie Napster den Anfang vom Ende für die “spanische Fregatte” Musikindustrie einläuteten5. Stellvertretend für die anderen Zweige der Content-Industrie, die davon abhängt, Kulturgüter auf Medien zu speichern und diese in Umlauf zu bringen, erlebt die Musikindustrie als eine Art “Avantgarde der Verlierer”, was es bedeutet, wenn einem plötzlich die technologische Basis der Geschäftsgrundlage entzogen wird6. Napster wurde verklagt dass es nur so aus den Gerichtsschreibern rauchte, doch File-Sharing hat heute größere Ausmaße denn je angenommen. Die Kriminalisierung der User und die Drohung, sie aus dem Netz zu jagen, wird da auch nicht helfen, außer man verwandelt die ganze Welt in eine Art Straflager mit Dauerüberwachung inklusive forensischer Harddiskkontrolle auf Spurenelemente von Bittorrents auf jedem Flughafen.
Nun ja, das gibt es schon, in den USA, wo die Culture Industry am stärksten ist. Doch Verbote haben nicht geholfen, helfen jetzt nicht und werden nicht helfen, solange man den Anschein einer “offenen Gesellschaft” aufrecht halten will. Denn es gibt kein “hochladen” mehr, wie ein Befürworter des File-Sharing einmal meinte. Alles ist bereits “unten”, verteilt auf unser aller Festplatten, die nur durch geschickte Nutzung von Peer-to-Peer Protokollen miteinander in die richtige Verbindung gesetzt werden müssen. Es gibt nun kaum jemanden, der dem Untergang der Musikindustrie, mit ihren überzogenen A&R Budgets, ihrer Arroganz und ihrem unerbittlichem Ausstoß an mittelmäßiger, nur durch gigantischen Werbeaufwand zu puschender Ware eine Träne nachweinen wird. Dennoch bleibt da ein Problem: wie steht es um die rührigen Kleinlabel-Betreiber, die mit viel Leidenschaft, Wissen und Sorgfalt jede auch noch so kleine Nische des Musikgeschmacks zu bedienen wissen, und wie steht es vor allem um die Musiker selbst, die ja letztlich den Stoff, aus dem die erholsamen Stunden sind, liefern? Wie werden die in Zukunft noch Geld verdienen können? Wie können sich Jahre an Ausbildung und mühevoll erworbenen Fertigkeiten, ganz zu schweigen von besonders kreativen Ideen, noch rentieren, wenn das Publikum sich gewöhnt hat, dass alles gratis zu sein hat? Der Verweis auf den Boom an Live-Musik der letzten 5 – 10 Jahre vermag Musikern wohl nur ein karges Lächeln abzuringen. Während die Musikindustrie einem leckgeschlagenem Riesendampfer gleich langsam dem Untergang zutreibt, lässt sich die Fragestellung auch auf andere Bereiche der Kulturindustrie ausweiten: wie lässt sich die Produktion qualitativ hochwertiger Kultur langfristig sichern? Unter Kultur fallen nicht nur Kunstsparten wie bildende Kunst, Musik, Theater, Tanz, Literatur, sondern auch Film, die anspruchsvolle TV-Dokumentation, Hörspiel, investigativer Journalismus u.v.a.m. Angesichts der sich anbahnenden Krise der Kulturindustrie auf ganz breiter Front scheint es etwas verfüht, Freudenfeuer über den Untergang der einen oder anderen “spanischen Fregatte” anzuzünden.Die Institutionen, die traditionell die Produktion und Konsumtion in diesen Bereichen finanziert und organisiert haben, sind mit der Industriegesellschaft entstanden. Ihre Krise ist mithin auch die Krise einer gesamten Gesellschaftsordnung. Und diese umzubauen, sie an die Bedürfnisse der postfordistischen Produktion anzupassen, dauert.
In den USA spricht man bereits von der “großen Rezession” in Anlehnung an die große Depression der dreißiger Jahre. Der US-Ökonom und Geograph Richard Florida nennt es hingegen den großen Reset, also Neustart und vergleicht unsere Krise mit der von 1873. Damals war die Industriearbeit gerade erst im Begriff sich durchzusetzen, die Landwirtschaft als Arbeitgeber Nummer 1 und damit die feudale Ordnung endgültig hinwegzufegen. Florida ist einer der bekanntesten Vertreter der Theorie von der Creative Class, der kreativen Klasse. Ihm zufolge gibt es eine neue Klasse, die kreative eben, welche, wie jetzt bereits in Keimform erkennbar, die Zukunft des Wirtschaftslebens ausmachen wird. So wie die Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert die Avantgarde des Kapitalismus war, sei jetzt die kreative Klasse die treibende Kraft der Erneuerung, meint Florida. Dazu zählen neben den bereits genannten Zweigen der Kunst- und Kulturproduktion auch die Werbung, PR, Kommunikation, Fachleute in Rechts- und Finanzberufen, Softwareentwickler, Teile des Wissenschaftsbetriebs. Mit zahlreichen Statistiken belegt er, dass diese Klasse, wenn man sie nur einmal als solche erkennt und ihren Output zusammenrechnet, einen seit dreißig Jahren stetig wachsenden – und zwar schneller als der Rest der Wirtschaft – Anteil am Bruttonationalprodukt hervorbringt7. Er zeigt auch, dass dieses Wachstum ungleich verteilt ist. Es konzentriert sich in Creative Cities, also Städten mit einem besonders hohen Anteil an Mitgliedern der Creative Class. Besonders wichtig für die Attraktivität eines Standortes sind für Florida die 3 T’s, Technologie, Talent und Toleranz. Während sich die ersten beiden T’s als Wirtschaftsfaktoren bereits herumgesprochen haben, wird Florida nicht müde, die Bedeutung des dritten T, der Toleranz, hoch zu loben. Die Städte oder Regionen werden besonders florieren, die besonders offen sind für Einwanderer, für Künstler und Kreative aller Art, für Menschen mit ungewöhnlichen Subjektivitäten und Sexualitäten. Das steht im krassen Gegensatz zum traditionellen Wertekanon der Industrie, wo Disziplin und Gehorsam innerhalb straffer Hierarchien als Weg zum Erfolg galten. Florida ist überzeugt, dass die Werte der Gegenkultur der sechziger Jahre heute gewissermassen Mainstream geworden sind, akzeptiert von Menschen, die selbst durchaus “normal” leben und sich auch nicht als Teil des linken politischen Spektrums sehen. Diese Werte hätten, so Florida, ihre politische Sprengkraft verloren und seien nun bedeutende Triebkräfte des neuen Kapitalismus. Doch das System insgesamt hat sich noch nicht darauf eingestellt, wie sich gerade zeigt, wenn sterbenden alten Industrien Milliarden nachgeworfen werden. Deshalb sieht Florida die Krise als Chance auf einen Neustart, um eine kreative Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen.
Von einem neuen “kognitiven” Kapitalismus spricht auch die europäische Linke, allen voran die Philosophen und Soziologen des sogenannten Post-Operaismus. Dieser Begriff bezieht sich auf eine Bewegung aus Italien in den siebziger Jahren, die Autonomia Operaio (Arbeiterautonomie), die gegen die Disziplin in den Fabriken revoltierte und für ein besseres Leben auf die Straßen ging8. Die Proteste galten nicht nur besserem Lohn sondern richteten sich gegen den entfremdeten Charakter der Lohnarbeit in der Fabrik. Nicht nur in Italien, in allen hochentwickelten Industrieländern begannen junge Arbeitnehmer gegen die Fabriksarbeit an sich zu protestieren. Es ereignete sich ein Exodus aus der Fabrik, im vollen Bewusstsein, damit prekäre Lebensumstände in Kauf zu nehmen. Die Philosophen des Post-Operaismo sind überzeugt, dass die sogenannte Globalisierung eine Antwort darauf darstellte, dass die Arbeiter in Europa unregierbar geworden waren. Also verlegte man die Produktion in Länder der sogenannten Dritten Welt, wo die Menschen froh waren und sind auch zu einem, nach westliche Kriterien, Hungerlohn zu schuften. Im Westen verlegte man sich darauf, hochwertige “informationelle” Güter zu erzeugen, sich ganz auf Design, Entwicklung und Marketing zu konzentrieren, während die Produktion “überall” stattfinden konnte. Damit entzog man den Arbeitern die Verhandlungsmasse in Konflikten um Jobsicherheit und Konditionen, wie die britischen Bergarbeiter als Aushängeschilder des Widerstands schmerzhaft erfahren mussten.
Das Vollzog sich in den achtziger Jahren zeitgleich mit dem Aufstieg der Werbebranche. Die Werber sind ja die eigentlichen “Kreativen”, was bis vor nicht allzu langer Zeit ein Schimpfwort exklusiv von und für Werbefritzen war. Wie Maurizio Lazzarato, einer der wichtigsten Vertreter des Post-Operaismo argumentiert, hat sich der Charakter der Arbeit grundlegend verändert9. Die Arbeit ist “immateriell” geworden, ihr Charakter betrifft vor allem die Erzeugung immaterieller Güter wie zum Beispiel die Marke oder das Branding: am besten nachzuvollziehen am Aufstieg der Edelturnschuhe. In den achtziger Jahren von findigen Clubbern als cooles Accessoire entdeckt, und damals noch vom älteren Bruder abgestaubt oder am Flohmarkt erstanden, erzielen aufgepimpte Treter heute die höchsten Preise unter Schuhwerk überhaupt, wenn sie von gewissen Marken stammen, die Milliarden in ihr Image investiert haben. Im postmodernen Kapitalismus ist das Image der Marke wichtiger als der Gebrauchswert des Produkts. Dieses Image wird aber eigentlich von allen erzeugt, von den Fan-Kulturen, die um die Marken entstehen und deren kommunikativer Arbeit. In gewisser Weise zeigen die Theorien von Floridas kreativer Klasse und Lazzaratos “immaterieller Arbeit” starke Überschneidungen, mit einem gravierenden Unterschied: Florida ist eine Art humanistischer Kapitalist, der mittels der kreativen Klasse den Kapitalismus reformiert und damit auch Ungerechtigkeit, Armut und andere Missstände beseitigt sehen möchte. Die Post-Operaisten hoffen aus der Analyse des kognitiven Kapitalismus die Formel für dessen Abschaffung herauszulesen.
Dabei ist Lazzaratos Analyse durchaus richtungsweisend, wenn man sich die New Economy ansieht: der Wert im Web wird eigentlich von allen geschaffen, die dort schreiben, Bilder und Videos posten, Remixes und Mash-ups machen; der Mehrwert, also Profit wird nur von wenigen abgeschöpft. Die gesamtgesellschaftliche “Abpressung” des Profits erfolgt durch jene Hebel, die dem Kapitalismus noch bleiben, allen voran die Miete. Jeder muss Miete zahlen. Und Künstler tragen durch ihr schieres Dasein oft dazu bei, die Immobilienpreise in einem Viertel steigen zu lassen. Der Wert von Immobilien und die Rendite aus Verkauf, Miete und Spekulation bildete jenes Karussel, das in den neunziger Jahren abzuheben begann und nun wie ein schlecht designtes UFO auf die Erde gekracht ist. In den Creative Cities boomen die Immobilien und verzeichnen, trotz Krise nur leichte Einbrüche. Die hohen Preise bezahlen wiederum jene angeblich so wertvollen kreativ-schöpferischen Menschen, unter denen sich eine Klassengesellschaft abzuzeichnen beginnt: die Aristokratie der kreativen Klasse erfreut sich immer noch hoher Einkommen entweder in den seltener werdenden Jobs auf den Fregatten der Kulturindustrie oder als “cultural entrepreneurs”, als Unternehmer ihrer selbst. High von sich selbst, wie es Diedrich Diederichsen sarkastisch in seinem Buch Eigenblutdoping beschreibt, treibt sich die kreative Schicht zu immer neuen Höchstleistungen, um sich das schicke Fabriksloft mit den Ledersofas noch leisten zu können10. Die anderen, die ganz normalen Kunstschaffenden verdienen einer jüngst erschienenen Studie zufolge zuwenig zum Leben – und werden dafür auch noch von Wortführern des neuen Unternehmertums gegeißelt. So unterstellt etwa Wolfgang Lotter, einer der Mitbegründer des modischen Wirtschaftsblatts Brand eins, den Kulturschaffenden, sich ähnlich wie die “alten” Industrien an ein überkommenes Modell zu halten. Doch: “Es ist kein Modell. Es ist eine Ausrede, zu der es kommt, weil die Kreativität fehlt, sich wirklich selbstständig zu machen”11. Wirklich “kreativ” sind also nur die Schumpeterschen kreativen Zerstörer, die sich, an der Spitze der kreativen Klasse stehend zur Weltherrschaft aufschwingen?
Lotters “Kritik” an den Künstlern scheint stark im Künstler-Bild des 19. Jahrhunderts befangen, völlig ignorierend, welche Wege die moderne Kunst seit den revolutionären 1910er Jahren gegangen ist. Die Avantgarde ist angetreten, um die Kunst wieder mit dem Leben zu verbinden. Die Künstler des russischen Konstruktivismus griffen begierig die Herausforderung der damals neuen Medien der künstlerischen Produktion auf, um die Kunst für eine neue Zeit zu schaffen. In den 1950er und 1960er Jahren suchten Künstler nach neuen Wegen, das Format des White Cube aufzubrechen und die Kunst mit dem Leben oder zumindest der Lebenswelt zu verbinden: land art, arte povera, body art, concept art, happening, fluxus, Videokunst, und die übergreifende Tendenz zur “dematerialisation” (Entmaterialisierung), wie sie von Lucy Lippard in einem wichtigen Text erkannt wurde12.Viele der Arbeistweisen und Ideen namen Funktionsweisen des postfordistischen Kapitalismus vorweg und bereiteten den Boden für die “kreative Revolution” der Gegenwart. Zeitgenössische Künstler fahren fort mit ihrer Arbeit ein kritisches Korrektiv zur Gesellschaft aufzubieten, oder “Einspruch zu erheben”, wie es die Künstlerin und Feministin Marion von Osten nennt. Denn die Künstler wittern seit Jahren den Braten, der hier mit kreativer Soße angereichert wird, doch im Prinzip nichts anderes ist als neoliberales Freimaurertum, Dinners im Rotary Club oder Cocktails beim Web-Entrepreneur-Treff. Kreativität ist das Feigenblatt, mit dem sich nicht nur die Ausschaltung der Künstler als kritisches Gegengewicht bewerkstelligen läßt, sondern auch ein neuer Imperativ, wie Marion von Osten bereits 2003 formulierte13. Sei kreativ ist nun eine Forderung nicht nur an Kulturschaffende, sondern auch, z.B., an Arbeitslose. Sie können ja kreative Unternehmer werden und sich ihren Job selber schaffen.Nur Hilfe vom Staat sollten sie dafür keine erwarten, denn unser ganzes Geld wird gerade in Banken und Auslaufmodelle des Industriezeitalters gepumpt. Insofern sind Polemiken gegen den subventionierten Kulturbereich oder auch den öffentlichen Rundfunk mit äußerster Vorsicht zu genießen. Wer Wirtschaft treiben will, soll es tun, aber nicht andere belehren oder behindern, die wirklich Musik machen, Gedichte schreiben oder komplexe Rauminstallationen zur Kritik der Konsumgesellschaft machen wollen. Wenn die Rede von der Kreativwirtschaft irgendetwas wert sein soll, dann müssen gerade solche geschützten Werkstätten, Bereiche also, wo kreativer Erfolg nicht allein an unmittelbarem wirtschaftlichem Erfolg gemessen wird, ganz gewaltig ausgebaut werden.Selbst der US-zentrische Richard Florida hat erkannt, wie wichtig ein reges Kulturleben für eine florierende Wirtschaft insgesamt ist. Kultur, oft in ihrem konkreten Nutzen schwer einzuschätzen, bildet dennoch die Schmiere, die den gesellschaftlichen Organismus in Bewegung hält, Werte vermittelt, Reibungsflächen erlaubt und es ermöglicht, neue, nicht-konforme Persönlichkeiten zu entwickeln. Die Wirtschaftstypen mit den coolen Frisuren und teuren Turnschuhen können ja zu den Eröffnungen kommen und danach in die selben Bars gehen und sich Schulter an Schulter mit den Künstlern auch ein wenig kreativ fühlen.
1. Armin Medosch, Achtung die Flexicutives kommen
2. Richard Barbrook und Andy Cameron, Die kalifornische Ideologie: Wiedergeburt der Moderne?
3. Andrew Ross, Nice Work if You Can Get It, In: My Creativity Reader, Geert Lovink, Ned Rossiter, Herausgeber
4. Armin Medosch, Mein Facebook-Freund? Nein danke!
5. Bernhard Gunther, Vom Gold der Inkas bis zum geistigen Eigentum
6. Walter Gröbchen, Die rettende Krise
7. Florida, Richard L. 2002. The rise of the creative class: and how it’s transforming work, leisure, community and everyday life. New York, NY: Basic Books. siehe auch Creative Class Website
8. Armin Medosch, Operaio, oder Unruhe in der “gesellschaftlichen Fabrik”
9. Maurizio Lazzarato (1998). Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus. In: Lazzarato, Maurizio / Negri, Antonio / Virno, Paul (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin, S. 39–52.
10. Diedrich Diederichsen (2008). Eigenblutdoping Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. KiWi, 1041 : Paperback. Köln: Kiepenheuer & Witsch
11. Wolf Lotter, Die Gestörten, Brand Eins 5/2007
12. Lucy Lippard, (1973). Six years: the dematerialization of the art object from 1966 to 1972; a cross-reference book of information on some esthetic boundaries. New York, Praeger
13. Marion von Osten, Be Creative, der kreative Imperativ: Ausstellungsdokumentation
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- Creative Cities Konferenz-Information
- Creative Cities 2. Teil: Operaio oder Unruhe in der gesellschaftlichen Fabrik
- Creative Cities: Bibliographie
- Creative Cities 1.Teil: Einführung
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